Regierungspräsident besucht Rettungswache in Gießen
Ein einjähriger Junge wird im Rettungswagen reanimiert. Währenddessen attackiert die Notfallsanitäter ein tobender Autofahrer. Der Grund: Das Rettungsfahrzeug parkte in zweiter Reihe und damit sein Auto zu. Das gibt es nicht? Leider doch, so geschehen vor wenigen Wochen in Berlin. Das Kind konnte wiederbelebt werden. Auf der Strecke bleibt aber in dem Fall die Wertschätzung für die Arbeit der Rettungskräfte. Immer wieder wird bundesweit von Übergriffen und körperlichen Attacken berichtet. Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich besuchte die DRK Rettungswache Gießen in der Eichgärtenallee und wollte wissen: Ist das auch in Mittelhessen ein Problem? Um es vorwegzunehmen: Ja, das ist es – wie auch eine aktuelle interne DRK-Umfrage beweist.
Es ist ein Besuch mit persönlichen Erinnerungen: Christoph Ullrich ist selbst ausgebildeter Rettungssanitäter. Während des Studiums saß er als erster Mann im Einsatzwagen und rettete viele Menschen aus teils dramatischen Situationen. „Meine Prüfung habe ich hier in diesem Gebäude vor 35 Jahren abgelegt“, berichtet er, „seitdem hat sich natürlich sehr viel geändert.“ Mit am großen Besprechungstisch sitzen Markus Müller (Geschäftsführer DRK Rettungsdienst Mittelhessen) und Christian Betz (Vorstand des DRK-Kreisverbandes Marburg-Gießen e.V.) und – vom Regierungspräsidium – Dr. Julia Grawitter (Stv. Dezernatsleiterin) und die für den Rettungsdienst zuständige Judith Rein.
Eine aktuelle interne Umfrage beim DRK Rettungsdienst Mittelhessen setzt ein alarmierendes Signal: Fast die Hälfte (45 Prozent) setzten ihr Kreuz bei der Frage „Die Neigung zu Bedrohung des Einsatzpersonals nimmt zu / deutlich zu“. 87 von rund 760 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben an der Umfrage teilgenommen. Der DRK Rettungsdienst Mittelhessen ist in den Landkreisen Gießen und Marburg-Biedenkopf, Lahn-Dill und dem Vogelsbergkreis aktiv. „Die Umfrage ist ganz klar ein Hinweis: Hier gibt es ein Problem“, sagt Markus Müller. Er sieht darin auch einen Auftrag für die betriebliche Weiterentwicklung, etwa zur Einrichtung einer Clearingstelle oder einer Vertrauensperson. Seine Grundhaltung bei Übergriffen: „Ich neige dazu, alles zur Anzeige zu bringen.“
Konkrete Beispiele für Angriffe gibt es mittlerweile viele. Markus Müller berichtet: „In Cölbe hat ein Mann seine Frau grün und blau geschlagen und dann am Rettungswagen randaliert, in dem die Frau versorgt worden ist.“ Nächster Fall: Amöneburg. Mit Lichthupen und anderen Signalen behindert ein Autofahrer eine Reanimation, weil er nicht weiterfahren kann.
„Wir erleben ein bislang unbekanntes Maß an Egozentrismus“, sagt Markus Müller rückblickend auf seine über 30-jährige Geschäftsführungstätigkeit.
Christian Betz ergänzt: „Die Menschen sind entgrenzt.“ Oftmals gehe ein Unverständnis einher, „aber es hat ja einen Grund, weshalb ein Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Signalhorn fährt oder in der zweiten Reihe steht“. Aus dem Alltag gibt es auch Positives zu berichten. „Das Thema Rettungsgasse ist deutlich besser geworden“, sagt Markus Müller. Das Land Hessen hatte eine landesweite Aufklärungsaktion gestartet. „Das ist ein positives Beispiel, dass Kampagnenarbeit fruchtet.“
„Das kommt öfters vor, aber wir machen das ja nicht mit Absicht, wenn wir ein Fahrzeug blockieren.“ Der Rettungsassistent Markus Belch ist seit 28 Jahren dabei. Zusammen mit seinen jungen Kollegen Thierry Peukert, Marc Pirr sowie Maurice Szulczyk sind sie auf der Wache in der Eichgärtenallee. Früher habe er sich aufgeregt, berichtet er weiter, wenn ihm Unverständnis oder mehr entgegenschlug. „Heute sage ich: Irgendwann kommen wir auch zu Ihnen.“ Und wie ist es mit Zwischenfällen? Auch in der vergangenen Nachtschicht hatte einen gegeben – ein Fußtritt ins Gesicht. Erschreckend daran ist der Unterton des Alltäglichen, mit dem er davon berichtet.
Solch extremen Erfahrungen hat der Regierungspräsident in seiner Praxis vor rund drei Jahrzehnten nicht machen müssen. „Es ist mir völlig unverständlich, dass diejenigen, die das Leben anderer Menschen retten, aggressives Verhalten erfahren. Was sie verdienen, ist hohen Respekt vor der täglich geleisteten Arbeit“, betont Christoph Ullrich. Denn den Rettungskräften sei stets bewusst: Hinter jeder Fahrt zum Einsatz stecke mit hoher Wahrscheinlichkeit ein menschliches Schicksal. „Gerade deshalb ist wichtig, dankbar für diese grundlegende Versorgung zu sein.“ Denn dies sei kein Beruf wie jeder andere, nicht nur wegen der intensiven Ausbildung und ständigen Fortbildungen. „Er ist vor allem auch deshalb höchst anspruchsvoll, weil Menschen im Rettungsdienst genauso wie Feuerwehrleute und Polizisten immer wieder auch sehr extreme Erlebnisse mit nach Hause nehmen und verarbeiten müssen.“
Ein kleiner Rundgang beendet den Besuch beim Deutschen Roten Kreuz und zeigt dem Gast auf, wie viel sich seit seiner aktiven Zeit geändert hat. Staunend stellt er in einem Rettungswagen fest: „Wir hatten damals nicht ansatzweise so viel Technik.“